Die Eskalationsspirale dreht sich seit Jahren, doch der Mord am Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 riss das Land endgültig in den Abgrund. Seitdem hatte Haiti fünf Übergangspremierminister, keiner von ihnen demokratisch legitimiert. Dieses Machtvakuum nutzten die Gangs, die einst als Werkzeuge korrupter Eliten agierten, um sich zu verselbstständigen. „Die Banden haben ihre kriminellen Portfolios durch Entführungen, Erpressung und Drogenhandel so diversifiziert, dass sie von ihren einstigen Gönnern unabhängig sind“, erklärt ein Experte für die Region. Heute diktieren sie die Regeln.
Ein Wendepunkt ereignete sich im Frühjahr 2024: Einst verfeindete Banden schlossen sich unter der Führung des berüchtigten Anführers Jimmy „Barbecue“ Chérizier zu einer Koalition namens „Viv Ansanm“ (Zusammen leben) zusammen. Ihr gemeinsamer Feind: der Staat. Mit koordinierten Angriffen auf Polizeistationen, Regierungsgebäude und sogar zwei grosse Gefängnisse, aus denen Tausende Insassen entkamen, brachten sie den Staatsapparat an den Rand des Zusammenbruchs. Chérizier inszeniert sich gerne als eine Art Robin Hood, als Beschützer der Armen gegen eine korrupte Regierung. Doch die Realität für die Bevölkerung in den von Gangs kontrollierten Gebieten ist eine andere. „Man ist ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert“, berichtet ein Bewohner aus Port-au-Prince. „Sie geben dir vielleicht heute Geld und morgen zwingen sie deinen Sohn, für sie zu kämpfen.“
Die enorme Schlagkraft der Gangs wäre ohne einen ständigen Nachschub an Waffen undenkbar. Recherchen belegen eindeutig: Der überwiegende Teil des Arsenals, darunter Sturmgewehre und Waffen mit hoher Durchschlagskraft, wird aus den USA, insbesondere aus Florida, nach Haiti geschmuggelt. Die Waffen gelangen per Schiff oder Flugzeug ins Land. „Wenn junge Männer mit Kriegswaffen ausgestattet sind, ist es leicht zu verstehen, wie die Situation ausser Kontrolle geraten kann“, so ein Beobachter vor Ort. Obwohl US-Behörden das Problem öffentlich anerkennen, wurden bisher kaum wirksame Massnahmen ergriffen, um diesen illegalen Waffenfluss zu unterbinden. Diese Untätigkeit nährt in Haiti Verschwörungstheorien, wonach die Destabilisierung des Landes von aussen bewusst in Kauf genommen wird. Fakt bleibt: Die Waffen, die in Haiti töten, vergewaltigen und vertreiben, tragen mehrheitlich das Siegel „Made in USA“.
Die humanitäre Katastrophe hat ein Ausmass erreicht, das seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde. Fast jeder zehnte Haitianer ist ein Binnenflüchtling. Über die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Lage wird durch die extreme Anfälligkeit des Landes für Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben von 2010 und den darauffolgenden Cholera-Ausbruch, der durch UN-Friedenstruppen verursacht wurde, zusätzlich verschärft. Dieses Trauma hat das Misstrauen gegenüber ausländischen Interventionen tief in der Gesellschaft verankert.
Dennoch erschien 2023 ein Hoffnungsschimmer, als Kenia anbot, eine multinationale Sicherheitsmission (MSS) anzuführen. Im Juni 2024 trafen hunderte kenianische Polizisten ein, um die haitianische Polizei zu unterstützen. Doch über ein Jahr später ist die Wirkung ernüchternd. Die Mission leidet unter chronischer Unterfinanzierung und einem unklaren Mandat. „Der Mission wurde nie eine echte Chance gegeben, ihre Wirksamkeit zu beweisen“, analysiert ein Sicherheitsexperte. Der Vorschlag, die MSS in eine vollwertige UN-Friedensmission umzuwandeln, scheitert bisher am Zögern der USA, die die Hauptlast der Finanzierung tragen müssten.
In dieses Machtvakuum stossen nun private Akteure. Berichte, die unter anderem von der New York Times und der Washington Post verifiziert wurden, belegen den Einsatz ausländischer Söldner im Land. Darunter befindet sich auch eine Firma von Erik Prince, dem berüchtigten Gründer der privaten Militärfirma Blackwater. Diese Kräfte arbeiten mit der haitianischen Polizei zusammen und führen Drohnenangriffe auf von Gangs kontrollierte Gebiete durch. Das Problem: Die Gangs leben inmitten der Zivilbevölkerung. Die Drohnen töten nicht nur Kriminelle, sondern auch unschuldige Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Dies wirft drängende Fragen nach Rechenschaft und der Legitimität staatlicher Gewalt auf, wenn sie an private, kaum kontrollierbare Akteure ausgelagert wird.
Experten sind sich einig: Eine rein militärische Lösung wird es nicht geben. „Die Anführer der Gangs werden innerhalb von Stunden ersetzt“, heisst es. Solange die tiefen Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaftseliten und organisierter Kriminalität nicht durchtrennt werden, wird der Kreislauf der Gewalt weitergehen. Für die meisten Haitianer bleibt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft eine ferne Illusion, während ihr Land vor den Augen der Welt zerfällt.