Der Ukraine-Krieg hat sich zu einem zermürbenden Stellungskrieg entwickelt, der oft mit dem Ersten Weltkrieg verglichen wird. Doch dieser Vergleich hinkt, wie der renommierte Militäranalyst Michael Kofman vom Carnegie Endowment nach einer kürzlichen Reise an die Front betont. Statt durchgehender Grabenlinien prägen heute vereinzelte, gut getarnte Drei-Mann-Stellungen mit grossen Lücken dazwischen das Bild. "Dies ist kein Krieg der Schützengräben, es ist ein Krieg der individuellen Kampfstellungen", so Kofman.
Diese dezentrale Verteidigung ist eine direkte Folge der Allgegenwart von Drohnen. Grosse, befestigte Anlagen im offenen Feld seien heute "suizidal", da sie durch die ständige Luftaufklärung (ISR) sofort erkannt und vernichtet würden. Die ukrainischen Soldaten, von denen einige über 90 Tage ununterbrochen an der Front ausharren, müssen sich in Kellern, dichten Wäldern oder Baumreihen verstecken. Die Versorgung und Rotation dieser Truppen ist ein logistischer Albtraum, der oft tagelange Fussmärsche erfordert.
Diese Taktik hat es der Ukraine ermöglicht, die über 1200 Kilometer lange Front mit einer relativ geringen Truppendichte zu halten und den vorrückenden russischen Kräften hohe Verluste zuzufügen. Drohnen wurden zur entscheidenden Waffe, die für die meisten täglichen Verluste auf russischer Seite verantwortlich ist. Doch die entscheidende Frage, die Kofman aufwirft, ist: Reicht das aus, um die Front dauerhaft zu stabilisieren? Die jüngsten Entwicklungen deuten auf eine beunruhigende Antwort hin.
Russlands Anpassungsfähigkeit an der Front
Trotz erheblicher materieller und personeller Überlegenheit agiert die russische Armee laut Kofman weiterhin unter ihren Möglichkeiten. Die Tatsache, dass die Ukraine Schlüsselstädte wie Pokrowsk und Tschassiw Jar so lange halten konnte, sei "bemerkenswert". Dennoch verschlechtert sich die Lage zusehends. Russische Einheiten rücken langsam, aber stetig vor, insbesondere östlich des Oskil-Flusses und im Raum Pokrowsk, wo eine Einkesselung droht.
Russland hat seine Angriffstaktik radikal geändert. Statt grosser mechanisierter Angriffe, die sich als verlustreich und ineffektiv erwiesen haben, setzt Moskau nun auf kleine Infanteriegruppen von oft nur zwei bis drei Soldaten. Diese versuchen, die Lücken in der ukrainischen Verteidigungslinie zu durchdringen, sich dahinter festzusetzen und auf Verstärkung zu warten. Auch Angriffe mit Motorrädern und Buggys folgen dieser Logik: Geschwindigkeit und Überraschung sollen die ersten Verteidigungslinien umgehen. "Die meisten scheitern, aber nicht alle", erklärt Kofman. Dies führt zu den kleinen, inkrementellen Gebietsgewinnen, die auf den Karten sichtbar werden.
Ein entscheidender Faktor ist die russische Adaptation im Drohnenkrieg. Einst klar unterlegen, hat Russland massiv aufgeholt. Spezielle Drohneneinheiten wie "Rubicon" sind nun an allen Frontabschnitten präsent. Sie konzentrieren sich darauf, die ukrainische Logistik mit Glasfaser-Drohnen zu stören, die bis zu 25 Kilometer hinter der Front operieren. Sie jagen ukrainische Drohnen und deren Bediener und setzen zunehmend eigene schwere Angriffsdrohnen ein. "Die ukrainische Überlegenheit im Drohneneinsatz ist geschrumpft", warnt Kofman. Kiew muss innovativ bleiben, um den Vorsprung zu wahren.
Der technologische Wettlauf zu Land und zu Wasser
Die Ukraine versucht, die Initiative zurückzugewinnen. Ein vielversprechender Bereich ist der Einsatz unbemannter Bodenfahrzeuge (UGVs). Diese werden vor allem für Logistik und medizinische Evakuierungen genutzt – ein Feld, in dem die Ukraine Russland noch deutlich voraus ist. Gleichzeitig arbeitet Kiew daran, die Lücke bei Angriffswaffen mit Reichweiten von 30 bis über 300 Kilometern zu schliessen, um russische Ziele tief im Hinterland effektiver bekämpfen zu können.
Parallel zum Landkrieg findet auf dem Schwarzen Meer eine eigene technologische Revolution statt. Wie der Marineexperte H.I. Sutton kürzlich enthüllte, begann die Entwicklung der gefürchteten ukrainischen Seedrohnen (USVs) im Sommer 2022 mit nicht viel mehr als einem Fischerboot und einem Starlink-Terminal. Aus diesem bescheidenen Anfang entstand eine ganze Familie von Marinedrohnen.
Das Modell "Magura V5", eine knapp sechs Meter lange, kaum sichtbare Waffe, hat bereits mehrere russische Kriegsschiffe versenkt. Doch die Entwicklung ging weiter. Auf den breiteren Plattformen der Nachfolgemodelle "W6" und "V7" wurden Raketenwerfer und sogar Luft-Luft-Raketen montiert. Berühmt wurde der Abschuss eines russischen Kampfjets durch eine solche Drohne vor einigen Monaten. Diese Erfolge zeigen die ausserordentliche Innovationskraft der Ukraine, die aus der Not geboren wurde.
Die aktuelle Lage bleibt jedoch kritisch. Während die Ukraine technische Lösungen gegen russische Langstreckenangriffe entwickelt, wie etwa Abfangdrohnen, die mit leichten Radaren gekoppelt sind, ist die Umsetzung eine Frage von Ressourcen und Zeit. Der Krieg in der Ukraine ist mehr denn je ein Wettlauf zwischen technologischer Anpassung, industrieller Kapazität und menschlicher Zermürbung. Die kommenden Monate werden zeigen, ob Kiews Innovationsgeist ausreicht, um der wachsenden Masse und der verbesserten Taktik Russlands standzuhalten.