Brüssels Drogenkrieg: Wie Kokain eine Nation an den Abgrund drängt

ordergrund: Eine nasse, düstere Kopfsteinpflastergasse in Brüssel bei Nacht. Eine einzelne, schwach leuchtende Laterne wirft lange, bedrohliche Schatten. Auf dem Boden liegt eine einzelne, weggeworfene Patronenhülse, die im Licht der Laterne leicht glänzt. Die Atmosphäre ist angespannt und verlassen.  Hintergrund: In der Ferne, über den Dächern der Altbauten, sind die massiven, hell erleuchteten Kräne und Containerstapel des Hafens von Antwerpen zu sehen. Die Lichter des Hafens wirken kalt und industriell.  Verbindungselement: Eine sehr feine, fast unsichtbare, leuchtende Linie aus weissem Pulver (symbolisch für Kokain) zieht sich von den Containern im Hintergrund über die Dächer bis in die Gasse im Vordergrund, wo sie bei der Patronenhülse endet. Dies visualisiert die direkte Verbindung zwischen dem Hafen und der Gewalt auf der Strasse.

Schiessereien am helllichten Tag, Gewalt in Wohngebieten, eine überforderte Polizei und eine Bevölkerung in Angst. Was wie das Drehbuch einer Krimiserie klingt, ist in Brüssel zur brutalen Realität geworden. Die belgische Hauptstadt, das Herz Europas, versinkt in einem Sumpf aus Kokain-Gewalt. Ein Drogenkrieg, der längst nicht mehr nur die Unterwelt betrifft, droht das gesamte System zu überwältigen und legt die tiefen sozialen Risse einer Gesellschaft offen.

Die Kapitulation auf der Strasse

Für Polizeibeamte wie Steven, seit 30 Jahren im Dienst, ist der Wandel dramatisch. "Früher hatten wir es mit klassischen Drogenabhängigen zu tun. Heute konsumieren alle Kokain, vom Arbeiter bis zum Manager", berichtet er resigniert während einer Patrouille. Sein Revier ist seine Heimatstadt Brüssel, doch privat ist er längst in die Vororte geflohen, um der eskalierenden Gewalt zu entkommen. Vorfälle wie jener im Stadtteil Saint-Gilles, bei dem ein Bürger zusammengeschlagen wurde, weil er einen Dealer filmen wollte, sind an der Tagesordnung. "Die Zeichen waren alle da", sagt Steven, "aber niemand hat auf die Anwohner oder die Polizei gehört."

Die Zahlen bestätigen dieses Gefühl der Ohnmacht. Allein im Jahr 2024 verzeichnete Brüssel 92 Schiessereien, bei denen neun Menschen starben und 48 verletzt wurden – eine drastische Zunahme im Vergleich zum Vorjahr. In Problemvierteln wie Anderlecht regiert die Angst. "Es ist furchtbar, hier zu leben", klagt eine Anwohnerin. Man fühle sich von der Politik im Stich gelassen, vernachlässigt in einem Krieg, der vor der eigenen Haustür tobt.

Antwerpen: Das weisse Tor nach Europa

Der Treibstoff für diesen Krieg fliesst ungebremst über den Hafen von Antwerpen ins Land. Tonnenweise wird Kokain aus Südamerika hier angelandet und in ganz Europa verteilt. Zwar konnte der belgische Zoll 2024 beeindruckende 44 Tonnen der Droge sicherstellen, doch Experten wie der Kriminologe Steven De Smet sind sich einig: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. "Der Strassenpreis für ein Gramm Kokain liegt seit einem Jahrzehnt stabil bei etwa 50 Euro", erklärt De Smet. "Das ist der beste Beweis dafür, dass es uns nicht gelingt, das Angebot nennenswert zu verknappen." Die schiere Menge, die den Markt flutet, macht die Droge für Banden zu einem extrem lukrativen Geschäft und für Konsumenten allgegenwärtig.

Der menschliche Preis: "Ich brauche die 10 Euro für Crack"

Hinter den Statistiken und den Bandenkriegen stehen menschliche Schicksale wie das von Jay. Der 36-Jährige ist seit 2016 von Crack, einer rauchbaren Form des Kokains, abhängig. "Kokain gibt es in Brüssel überall, das ist das Problem", sagt er. Sein Leben ist ein täglicher Kampf um die nächsten 10 Euro für die Droge. Job, Wohnung, soziale Bindungen – alles hat er verloren. "Die Leute fragen, ob ich etwas essen werde. Nein, sage ich, ich brauche das Geld für Crack. Gegessen wird später."

Hilfe findet er im "Gate", Brüssels erstem Drogenkonsumraum. Hier können Abhängige unter hygienischen und sicheren Bedingungen konsumieren. Bruno Vloeberghs, der die Einrichtung seit Jahren leitet, sieht die Ursache jedoch tiefer. "Das ist keine Crack-Krise, es ist eine soziale Krise", betont er. "Solange wir die tiefen sozialen Ungleichheiten nicht angehen, werden immer mehr Menschen aus der Gesellschaft gedrängt." Es sind Menschen, die Hilfe brauchen, die Unterstützung verdienen. Für Jay ist der Weg zurück steinig. Ein Versuch, in Frankreich clean zu werden und zu arbeiten, scheiterte bei seiner Rückkehr nach Brüssel. Der erste Weg führte ihn zurück zur Droge.

Politische Ohnmacht und ein europäisches Problem

Die Polizei fühlt sich machtlos. Beamter Steven berichtet von Personalmangel, zu geringer Finanzierung und einem Justizsystem, das überfordert scheint. Festgenommene Dealer, oft undokumentierte Migranten, erhalten eine Ausreiseaufforderung, der sie selten nachkommen. Die belgische Innenministerin räumt auf Anfrage "Herausforderungen" ein und verspricht Besserung: "Sowohl die föderale als auch die lokale Polizei werden in den kommenden Jahren vollständig ausgestattet."

Doch reicht das? Fabrice Cumps, Bürgermeister des geplagten Stadtteils Anderlecht, sieht das Problem an der Wurzel: "Der Eintrittspunkt ist der Hafen von Antwerpen. Dort müssen die Massnahmen ansetzen." Er fordert gründlichere Kontrollen aller ankommenden Container. Eine Forderung, die längst über die belgischen Grenzen hinausreicht. Der Kriminologe De Smet stimmt zu: "Was im Hafen von Antwerpen passiert, beeinflusst ganz Europa. Es wäre also nur logisch, wenn Europa in die Sicherheit des Hafens investieren würde, um mehr Container zu scannen."

Während auf den Strassen von Brüssel Betonbarrieren an den Orten jüngster Schiessereien errichtet werden – ein verzweifeltes Symbol der Hilflosigkeit –, wächst das Drogenimperium weiter. "Schlägt man einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach", fasst ein Beobachter die Lage zusammen. Solange die Nachfrage besteht und das Angebot durch die grossen Häfen fliesst, wird der tödliche Kreislauf aus Sucht, Gewalt und sozialem Elend weitergehen. Belgien kämpft einen Kampf, den es allein nicht gewinnen kann. Es ist ein europäischer Kampf, der eine europäische Antwort erfordert.