Die Lage an der Ostfront, die seit über einem Jahr von einem brutalen Abnutzungskrieg geprägt ist, hat eine dramatische Wendung genommen. Nördlich von Pokrowsk, einem zentralen Verteidigungsknotenpunkt der Ukraine, ist es russischen Streitkräften gelungen, eine tiefe Bresche in die ukrainischen Linien zu schlagen. Satellitendaten und Berichte von Frontanalysten zeichnen ein düsteres Bild: Seit dem 20. Juli hat sich die Frontlinie um fast 20 Kilometer nach Westen verschoben. Es handelt sich um einen taktischen Durchbruch, der das Potenzial hat, sich zu einer operativen Katastrophe für die ukrainische Armee auszuweiten.
Militäranalysten wie der auf X (ehemals Twitter) aktive Experte „Pifra“ und der französische Beobachter Clement Molin schlagen Alarm. Ihrer Einschätzung nach begann der russische Vorstoß um den 21. Juli, als kleine russische Sabotage- und Aufklärungsgruppen (DRGs) erstmals Kontakt mit der neu errichteten ukrainischen „Donbas-Linie“ hatten. Unter dem Deckmantel einer bemerkenswerten medialen Stille auf beiden Seiten sickerten diese Gruppen immer tiefer ins Hinterland ein. Was zunächst wie unkoordinierte Nadelstiche wirkte, entpuppte sich als eine methodisch geplante Operation, die nun Früchte trägt.
Die Ursachen für diesen Erfolg Moskaus sind vielschichtig und beleuchten die kritische Lage, in der sich die ukrainischen Verteidiger befinden. An vorderster Front steht ein „katastrophaler Mangel an Personal“, wie Pifra es formuliert. Ukrainische Brigaden, die auf dem Papier existieren, sind in der Realität oft nur noch „Papierbrigaden“ – durch Verluste, Erschöpfung und stockende Rekrutierung ausgezehrt. Dies führt zu riesigen Lücken in der Verteidigungslinie, die nicht mehr als durchgehender Wall, sondern eher als eine Ansammlung von Verteidigungsinseln, sogenannten „Bubbles“, beschrieben werden kann.
Diese Lücken werden in der modernen Kriegsführung primär durch Drohnenteams überwacht und verteidigt. Doch auch diese Ressourcen sind endlich. Russland hat dies erkannt und seine Strategie angepasst. Anstatt massive Panzerkolonnen ins Gefecht zu werfen, die ein leichtes Ziel für FPV-Drohnen wären, setzt der Kreml auf eine neue, perfide Taktik: Hunderte von kleinen, schwer zu ortenden Kommandotrupps, bestehend aus zwei bis drei Soldaten, infiltrieren die ukrainischen Linien. Oftmals nutzen sie dafür Motorräder oder ATVs, um schnell und unauffällig durch das unwegsame Gelände hinter die Front zu gelangen.
Clement Molin beschreibt das Vorgehen als „sehr schnell und sehr effizient“. Diese Infiltrationstrupps umgehen die ukrainischen Stellungen, errichten im Hinterland eigene kleine Stützpunkte und warten auf Verstärkung. Ihre Hauptaufgabe ist es, Chaos zu stiften, die Logistik zu stören und – entscheidend – die ukrainischen Drohnenteams von der eigentlichen Front abzulenken. Sind die Drohnencrews damit beschäftigt, die Saboteure im Rücken der eigenen Linien zu jagen, haben die russischen Hauptkräfte an der Front freie Bahn, um die geschwächten Verteidigungsinseln zu überrennen. „Wenn kein Drohnenteam mehr da ist, um sie aufzuhalten, wer soll es dann tun?“, fragt Molin rhetorisch. „Nicht die Artillerie und schon gar nicht die nicht-existente Infanterie.“
Dieser Durchbruch hat unmittelbare und weitreichende Konsequenzen. Die Frontlinie hat sich dramatisch verlängert, was die ohnehin überdehnten ukrainischen Kräfte vor eine noch größere Herausforderung stellt. Die strategisch wichtige Straße zwischen Dobropillia und Kramatorsk, eine zentrale Versorgungsader, ist laut übereinstimmenden Berichten bereits durchtrennt oder zumindest unter direktem russischem Feuer. Russische Einheiten stehen demnach bereits am Rande von Ortschaften wie Biloserske. Die Gefahr einer Einkesselung von Pokrowsk und dem nahegelegenen Myrnohrad ist real. Selbst die Großstadt Kostjantyniwka, weiter nordöstlich, gerät in eine zunehmend prekäre Lage.
Der Vorstoß öffnet für Russland einen operativen Raum in ländlichen Gebieten, der es ermöglichen könnte, weiter nach Norden in Richtung der Städte Slowjansk und Kramatorsk vorzustoßen. Ein solches Szenario würde den gesamten von der Ukraine kontrollierten Teil des Donbas von seinen rückwärtigen Verbindungen abschneiden – eine strategische Niederlage von unvorstellbarem Ausmaß.
Die Reaktionen aus der Ukraine spiegeln die Ernsthaftigkeit der Lage wider. Während offizielle Militärsprecher versuchen, die Situation zu beruhigen und von „kleinen Gruppen von 5 bis 10 Russen“ sprechen, die in Keller eingedrungen seien, wählen erfahrene Kommandeure drastischere Worte. Maksym Krotevych, ehemaliger Kommandeur des Asow-Regiments, schrieb in einem öffentlichen Brief an Präsident Selenskyj von „komplettem Chaos“, das sich seit Langem anbahne. Er kritisiert eine systematische Aushöhlung der Reserven, eine Zersplitterung der Einheiten und einen Mangel an strategischer Vision in Teilen der Militärführung.
Als unmittelbare Reaktion verlegt die ukrainische Heeresleitung nun Elitetruppen an den Krisenherd. Die kampferprobte 92. Sturmbrigade sowie Einheiten der Nationalgarde, darunter die renommierte 12. Spezialbrigade „Asow“, wurden in den Raum Pokrowsk beordert, um den russischen Vormarsch zu blockieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ihr Erfolg wird davon abhängen, ob es gelingt, die russischen Spitzen, die sich nun tief im Feindesland befinden und selbst anfällig für Flankenangriffe sind, abzuschneiden und zu vernichten.
Auffällig ist die Zurückhaltung auf russischer Seite. Weder Militärblogger noch offizielle Kanäle feiern den Erfolg mit dem üblichen Pomp. Kanäle wie „Rybar“ oder „Two Majors“ zitieren vorwiegend ukrainische Quellen und mahnen zur Vorsicht, solange keine objektiven Bildbeweise für die Einnahme der Gebiete vorliegen. Dies könnte auf eine neue Disziplin in der russischen Informationspolitik hindeuten, aber auch auf die Erkenntnis, dass der Vorstoß trotz seines Erfolges äußerst riskant ist. Die weit vorgedrungenen Infanterieeinheiten müssen versorgt und ihre Flanken gesichert werden, was eine logistische Herkulesaufgabe darstellt.
Der Zeitpunkt der Offensive ist zudem von politischer Brisanz. Analysten vermuten, dass Putin mit dieser Machtdemonstration seine Verhandlungsposition im Vorfeld möglicher Gespräche, etwa unter Vermittlung eines potenziellen US-Präsidenten Donald Trump, stärken will. Die Forderung des Kremls nach der vollständigen Kontrolle über das Oblast Donezk erhält durch den militärischen Vormarsch in genau dieser Region neues Gewicht.
Die kommenden Tage werden entscheidend sein. Kann die Ukraine die Lücke schließen und die russischen Einheiten einkesseln? Oder gelingt es Moskau, den taktischen Durchbruch mit Panzern und schwerem Gerät in einen operativen Sieg zu verwandeln, der die Landkarte des Krieges neu zeichnet? An der Front nördlich von Pokrowsk entscheidet sich möglicherweise gerade das Schicksal des gesamten Donbas.