Erbitterte Kämpfe um Tschassiw Jar und die blutige Realität des Stellungskriegs

An der Front prallen Propaganda und Realität aufeinander. Während Kiew eine erfolgreiche Kommandoaktion auf der von Russland besetzten Krim meldet, verkündet Moskau die vollständige Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Tschassiw Jar. Gleichzeitig liefert ein neuer Dokumentarfilm einen schonungslosen Einblick in die brutale Zermürbung des modernen Krieges, die den strategischen Debatten ein menschliches Gesicht gibt.

Die Informationsfront im Ukraine-Krieg ist so umkämpft wie die Schützengräben im Donbass. Jüngstes Beispiel ist eine Operation auf der Tendra-Nehrung, einer schmalen Landzunge nahe der besetzten Krim. Die Hauptverwaltung für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums (GUR) veröffentlichte Aufnahmen, die eine amphibische Landung von Spezialkräften bei Nacht zeigen sollen. Laut Kiew wurden dabei russische Stellungen, Personal, ein Komplex für elektronische Kriegsführung sowie eine Radarstation eliminiert und die ukrainische Flagge gehisst. Man habe keine eigenen Verluste erlitten.

Auf russischer Seite zeichnet der Militärblogger „Archangel Speznaza“ ein gänzlich anderes Bild. Er dementiert eine Landung vehement. Vielmehr habe es sich um einen Täuschungsversuch gehandelt. Vier ukrainische Landungsboote hätten sich genähert, um russisches Feuer auf sich zu ziehen. Unmittelbar danach sei ein massiver Drohnenangriff auf die enttarnten russischen Stellungen erfolgt – unter Einsatz von Bayraktar-Drohnen, FPV-Drohnen und sogar unbemannten Überwasserschiffen, die mit Raketenwerfern bestückt waren. Während die Ukraine also von einer erfolgreichen Kommandoaktion spricht, beschreibt Russland eine komplexe Falle. Fakt ist: Die Ukraine untermauert ihre Darstellung mit Videomaterial einer Strandlandung, während Russland eine unbewiesene Gegenerzählung liefert. Es ist ein klassisches Beispiel für den Nebel des Krieges, in dem Wahrheit zur Waffe wird.

Der symbolische Kampf um Tschassiw Jar

Weiter nördlich, im Osten der Ukraine, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Stadt Tschassiw Jar, westlich des seit Langem zerstörten Bachmut. Das russische Verteidigungsministerium verkündete kürzlich die vollständige „Befreiung“ der Stadt. Doch auch hier widerspricht die ukrainische Seite umgehend. Ein Militärsprecher bezeichnete die russische Darstellung als „erneute Lüge“ und betonte, ukrainische Truppen hielten weiterhin Stellungen im südlichen und westlichen Teil der Stadt. Analysten des ukrainischen Projekts „DeepStateMap“ weisen darauf hin, dass die von Russland gezeigten Flaggenhissungen in Gebieten stattfanden, die bereits vor Tagen oder Wochen unter russische Kontrolle geraten waren.

Der Kampf um Tschassiw Jar ist von hoher strategischer Bedeutung. Eine vollständige Einnahme würde den russischen Streitkräften erlauben, die Flanken ihrer vorrückenden Truppen zu sichern, die versuchen, die wichtige Versorgungsstadt Kostjantyniwka einzukesseln. Von dort aus, so die Hoffnung Moskaus, öffnet sich der Weg zu den Grossstädten Kramatorsk und Slowjansk, den rückwärtigen Kommando- und Logistikzentren der ukrainischen Verteidigung im Donbass. Doch trotz der russischen Behauptungen und der langsamen, zermürbenden Fortschritte gibt es derzeit kaum Anzeichen dafür, dass Russland über die Kapazitäten für einen schnellen Durchbruch verfügt. Der Vormarsch bleibt ein blutiger, ressourcenintensiver Abnutzungskrieg.

Die ungeschminkte Wahrheit: 2000 Meter bis Andrijiwka

Abseits der grossen strategischen Linien und Propagandaschlachten liefert der neue Dokumentarfilm „2,000 Meters to Andriivka“ einen intimen und erschütternden Einblick in die Realität dieses Krieges. Der Film begleitet Soldaten der 3. ukrainischen Sturmbrigade während der Sommeroffensive 2023 bei ihrem Versuch, einen 2000 Meter langen Waldstreifen zu erobern, um das Dorf Andrijiwka südlich von Bachmut zu befreien.

Der Film zeigt schonungslos, warum dieser schmale Streifen Land zur Todesfalle wurde. Die umliegenden Felder waren so stark vermint, dass ein Vormarsch im offenen Gelände unmöglich war. Die einzige Option war der Kampf Baum für Baum, Graben für Graben. Mit einer Mischung aus professionellen Dokumentaraufnahmen und rohem Helmkamera-Material der Soldaten selbst entsteht ein beklemmendes Gefühl der Unmittelbarkeit. Die Zuschauer erleben den Nahkampf, hören die wütenden Schreie der ukrainischen Soldaten, die die russischen Besatzer anbrüllen: „Was macht ihr hier überhaupt? Geht nach Hause!“

Doch der Film blickt auch hinter die Gefechte. In den kurzen Pausen zwischen den Kämpfen erzählen die Soldaten von ihrem Leben vor dem Krieg, von ihren Motiven und ihren Hoffnungen. Einige zeigen sich optimistisch, andere sind vom Erlebten gezeichnet und pessimistisch. Diese Vielstimmigkeit, selbst innerhalb einer kleinen Kampfeinheit, verleiht dem Film eine tiefgreifende Authentizität und macht ihn zu einem der wohl realistischsten Kriegsdokumentationen der jüngeren Zeit. Er zeigt, was Begriffe wie „Geländegewinn“ in Menschenleben bedeuten: ein zermürbender Kampf um jeden Meter Boden.

Strategische Bewertung und neue Frontabschnitte

Die strategische Gesamtlage bleibt komplex. Der bekannte russische Militärkritiker Igor Girkin argumentiert, dass viele der russischen Vorstösse, etwa bei Pokrowsk, aus strategischer Sicht wertlos seien. Die Ukraine, so seine Analyse, tausche bewusst Territorium gegen Zeit, um an wirklich entscheidenden Stellen massive Verteidigungsstellungen zu errichten.

Ein solcher neuer Brennpunkt scheint sich nun weiter westlich, südlich von Saporischschja in der Gegend von Plawni, zu entwickeln. Russische Truppen versuchen hier entlang des Dnipro vorzustossen und treffen erstmals auf die massiven, über das letzte Jahr errichteten ukrainischen Verteidigungslinien. Berichten zufolge bestehen diese aus mit Baggern ausgehobenen und mit Beton verstärkten Gräben, unterirdischen Verbindungswegen und Dutzenden befestigten Feuerstellungen. Der Kampf hier, so russische Quellen, sei extrem schwierig, die Hitze unerträglich und der Himmel von Drohnen „wie an einem Flughafen“ geschwärzt.

Insgesamt behält Russland zwar die Initiative auf dem Schlachtfeld und erzielt langsame, kostspielige Geländegewinne. Die Ukraine befindet sich jedoch in einer robusten strategischen Defensive, fügt den Angreifern hohe Verluste zu und führt gezielte Gegenangriffe durch, wie zuletzt im Norden bei Sumy. Der Krieg bleibt ein brutaler Abnutzungskampf, dessen Ende nicht in Sicht ist.