Nairobi, 01. Juli 2025 – Am 25. Juni 2025 erwachte Kenias Hauptstadt Nairobi zu einem beispiellosen Bild: Das Parlament, sonst ein Ort der öffentlichen Bildung, war umzingelt von Stacheldraht, Barrikaden und einer massiven Polizeipräsenz. Schlüsselrouten zu Regierungsgebäuden waren abgeriegelt, Tränengasfahrzeuge standen bereit, und schwer bewaffnete Polizisten, teils zu Pferd, patrouillierten die Straßen. Drohnen summten am Himmel, Polizeihunde knurrten jeden an, der sich näherte. Die Botschaft war unmissverständlich: Die für diesen Tag geplanten Proteste würden nicht geduldet. Doch die Kenianer entschieden sich, diese Warnung zu ignorieren.
Während die Polizei ihre Barrieren errichtete, strömten Menschen aus allen Gesellschaftsschichten ins Herz von Nairobi. Und nicht nur dort: Laut dem lokalen Nachrichtenportal „Business Daily“ erfassten die Proteste 25 der 47 kenianischen Landkreise. Zehntausende schlossen sich an, sangen und skandierten, doch der Tag endete in einem Chaos aus Tränengas, Straßenschlachten und panischer Flucht. Als der Rauch sich legte, schätzte Amnesty Kenia mindestens 16 Tote und Hunderte Verletzte.1 Die Szenen waren erschütternd und lassen befürchten, dass sich die Lage weiter zuspitzt, bevor sie sich bessert.
Der Funke, der das Fass zum Überlaufen brachte: Albert Oswang und Bonface Karuki
Um die jüngsten Ereignisse zu verstehen, muss man die Vorgeschichte kennen. Der Zorn der Bevölkerung hatte sich über Wochen aufgebaut. Ein tragisches Ereignis Mitte Juni befeuerte die angespannte Stimmung: Albert Oswang, ein Lehrer und aufstrebender politischer Online-Kommentator, wurde am 7. Juni festgenommen, weil er angeblich den stellvertretenden Generalinspekteur der Polizei – Kenias Äquivalent zum stellvertretenden FBI-Direktor – verunglimpft hatte. Oswang starb in Polizeigewahrsam. Die offizielle Erklärung der Polizei, er habe sich im Arrest „Kopfverletzungen zugezogen, als er seinen Kopf gegen die Zellwand schlug“, wurde von Millionen misstrauischer Kenianer als plumpe Vertuschung wahrgenommen.
Der Tod Oswangs führte am 17. Juni zu landesweiten Protesten. Während dieser Demonstrationen wurde der Maskenverkäufer Bonface Karuki von einem Polizisten aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen. Das auf Video festgehaltene Attentat ging viral, wurde millionenfach angesehen und löste eine Welle der Empörung bei Bürgern, Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen aus. Diese Vorfälle verdeutlichen die explosive Stimmung, die Kenia am Vorabend des 25. Juni ergriff – eine Wut, die Regierungen zu Recht fürchten.
Ein Jahr des Zorns: Das Vermächtnis der Proteste von 2024
Der 25. Juni war nicht zufällig gewählt. Er wurde zum Sammelruf, zum Symbol des Widerstands. Dies führt uns zurück in den Sommer 2024, als Präsident Rutos Regierung ein umstrittenes Finanzgesetz einführte, das die Lebenshaltungskosten für viele Kenianer, die bereits am Rande des Existenzminimums lebten, exponentiell erhöht hätte. Die darauf folgenden Proteste forderten 60 Todesopfer, Dutzende wurden entführt oder verletzt. Teile des historischen Parlamentsgebäudes gingen in Flammen auf – eine Szene, die sich ins kollektive Gedächtnis Kenias einbrannte.
Präsident Ruto zog das Gesetz schließlich zurück und entließ sein gesamtes Kabinett, nur um die meisten Minister stillschweigend wieder einzustellen. Dies markierte einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Regierung. Rutos Beliebtheitswerte, die ohnehin schon unter ständigen Steuererhöhungen litten, fielen auf ein Allzeittief und konnten sich seither nicht erholen. Berichte über staatlich sanktionierte Entführungen und Folter häuften sich. Der Journalist John Camau von der „Daily Nation“ warf Präsident Ruto vor, in die Fußstapfen des ehemaligen Diktators Daniel Moy – Rutos politischem Mentor – zu treten.
Es war vor diesem Hintergrund eines Jahres schwelender Wut und frischer Wunden durch außergerichtliche Tötungen, dass Aktivisten die Proteste vom 25. Juni planten, um der Opfer der Juni-Proteste 2024 zu gedenken.
Die Stimme der Straße: Zeugnis einer Konfrontation
Am Morgen des 25. Juni machten sich die Demonstranten langsam auf den Weg in die Stadt. Unser Team vor Ort sprach mit mehreren Teilnehmern, darunter eine Person, die wir zum Schutz ihrer Privatsphäre "N" nennen. N berichtete, dass der Bus auf dem Weg ins Zentrum Nairobis von der Polizei angehalten wurde. Die Passagiere mussten etwa drei Kilometer zu Fuß gehen. Auf diesem Weg wurden sie von Bereitschaftspolizei überrascht, die Tränengas einsetzte und die Gruppe zur Flucht zwang. Selbst eine Kirche, die Zuflucht bot, wurde später mit Tränengas beschossen.
Alle befragten Demonstranten erzählten eine ähnliche Geschichte: Die Polizei griff zuerst an, sei es mit Tränengas, Peitschen oder Schlagstöcken. Als die Zahl der Demonstranten anstieg, wechselten die Beamten zu Gummigeschossen, scharfer Munition und Wasserwerfern, was zu zahlreichen Verletzungen führte. Larry Madowo, Korrespondent von CNN International, filmte Szenen, in denen Polizisten Demonstranten in einer Sackgasse einkesselten, schlugen und mit Tränengas angriffen. Ein herzzerreißender Moment, als ein Demonstrant zu Madowo sagte: „Wenn Sie gehen, werden wir getötet.“ Madowo gelang es, die Gruppe in Sicherheit zu bringen.
Medien im Visier: Trotz Drohungen standhaft
Während die Gewalt eskalierte, ordnete die Kommunikationsbehörde Kenias (CAK) Fernseh- und Radiosendern an, die Live-Berichterstattung über die Proteste einzustellen. In einem Fall drangen Behörden gewaltsam in eine Sendestation ein und schalteten die frei empfangbaren Signale ab. Trotzdem blieben die meisten Medienhäuser standhaft und sendeten weiter, selbst als die CAK weitere Maßnahmen androhte.
Als der Tag zur Nacht wurde, machten sich die meisten Demonstranten auf den Heimweg. Doch jene, die in der Innenstadt (CBD) gefangen waren, berichteten von schrecklichen Erlebnissen. Frauen meldeten Fälle von sexueller Übergriffen, Männer von anhaltender körperlicher Gewalt. Nairobi stand erneut in Flammen, und die Konsequenzen könnten diesmal weitreichender sein als je zuvor.
Das Narrativ der Regierung: "Terrorismus verkleidet als Dissens"
Nachdem die Proteste abgeklungen waren, brandmarkten mehrere Politiker der regierenden Kenya Kwanza-Koalition die Demonstranten schnell als Anarchisten. Sie verwiesen auf Plünderungen und Sachbeschädigungen als Beweis dafür, dass die Proteste weniger der Gerechtigkeit dienten, sondern vielmehr eine Gelegenheit zum Diebstahl waren. Kipchumba Murkomen, Kabinettssekretär für Inneres und Nationale Verwaltung, ging noch weiter und beschrieb die Proteste als „Terrorismus, verkleidet als Dissens“, und als „verfassungswidrigen Versuch, die Regierung zu ändern“.
Murkomens Äußerungen erinnerten frappierend an Präsident Rutos anfängliche Hardliner-Erklärung nach den Protesten von 2024, in der er die Ereignisse als Verrat bezeichnete. Murkomen gratulierte der Polizei zusätzlich zu ihrer „Professionalität und Zurückhaltung angesichts extremer Provokationen“ und behauptete, kein Beamter habe Exzesse begangen – stattdessen hätten sie einen Putsch vereitelt. Larry Madowo konterte auf Twitter, er habe unzählige Male gesehen, wie die Polizei Demonstranten provoziert, geschlagen, mit Tränengas angegriffen und auf sie geschossen habe.
Murkomen richtete seinen Finger schließlich auf die internationale Gemeinschaft und warf ausländischen Diplomaten vor, kein „sicheres Kenia“ zu wollen. Dies, obwohl die Diplomaten zuvor eine Erklärung veröffentlicht hatten, in der sie zur Zurückhaltung und zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit während der Proteste aufriefen. Musalia Mudavadi, Kenias Premierminister und Top-Diplomat, zielte ebenfalls auf die Diplomaten ab, wählte jedoch einen defensiveren, fragenden Ton, um die Schuld für das Chaos auf ungenannte Protestorganisatoren zu schieben. Die Journalistin Wagani Miner bemerkte, dass beide Erklärungen eine zunehmend angeschlagene Regierung offenbarten – sowohl im In- als auch im Ausland. Was dies für die Protestbewegung und Rutos Zukunft bedeutet, bleibt abzuwarten.
Was kommt als Nächstes? Ein gespaltenes Land
Lewis Naguni, Kolumnist der „Daily Nation“, schreibt, dass Kenia nicht scheitere, sondern das Regime bröckle. Dies ist eine Stimmung, die viele im Land teilen und die sich im Ruf „Ruto muss gehen“ manifestiert, einem häufigen Schlachtruf bei Protesten. Doch trotz dieser Rufe und Proteste ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Präsident Ruto vor dem Ende seiner verfassungsrechtlich garantierten Amtszeit zurücktreten wird. Er genießt weiterhin die Unterstützung eines erheblichen Teils des Landes und hat durch die Bildung einer breit aufgestellten Regierung nach den Protesten von 2024 die Opposition effektiv kooptiert.
Rutos dauerhafte Basis liegt in den ländlichen Gebieten des Rift Valley, die ihn ins Amt brachten; evangelikale Kirchen, die von seinen tiefen Taschen angetan sind; und ein Teil der „Hustler Class“ im informellen Sektor, die seine Mikrokreditprogramme immer noch als Unterstützung in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten ansehen. Für viele in diesen Wahlkreisen erscheinen die Proteste als ein auf Nairobi zentriertes Spektakel, angeführt von Gen Z der Mittelklasse und Stadtprofis, die es sich leisten können, „zwischen den Schichten zu hashtaggen“. Sie mögen Polizeiexzesse beklagen, doch sie befürchten, dass anhaltende Unruhen genau jene Investoren abschrecken, deren Projekte Arbeitsplätze versprechen. Wo Demonstranten das Regime als existenzielle Bedrohung sehen, stellen Rutos Anhänger ihn als einen unvollkommenen, aber notwendigen Verwalter von Stabilität und inkrementellem Fortschritt dar.
Dies spiegelt sich auch in den Umfragen wider: Ruto hat sich erfolgreich als der Mann positioniert, der 2027 geschlagen werden muss, und laut den meisten politischen Analysen ist die Wahrscheinlichkeit seines Verlustes gering. Für die Kenianer, die an den Protesten teilnehmen, sind das nicht nur unerwünschte Nachrichten; es ist, als müsste man „einen Eimer kalten Erbrochenen schlucken“.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Bewegung derzeit kein klares Endziel zu haben scheint. Während einige Menschen auf die Straße gingen, um der Gefallenen zu gedenken, hofften andere auf eine Revolte im Stil des Arabischen Frühlings. Mit so unterschiedlichen Motiven ist es schwierig, objektiv zu beurteilen, ob der Protest ein Erfolg war oder nicht. Es ist auch schwierig, eine erfolgreiche politische Koalition aufzubauen, die gegen den Amtsinhaber antreten kann.
Ein Land am Scheideweg: Die brutale Wahrheit der kenianischen Realität
Nimmt man das Tränengas und die Hashtags weg, so bleibt eine harte arithmetische Wahrheit: Das Leben in Kenia ist brutal teuer geworden. Die Lebensmittelpreise haben sich in den letzten drei Jahren verdoppelt, die Stromtarife schießen regelmäßig und ohne Vorwarnung in die Höhe. Die Schaffung von Arbeitsplätzen hinkt dem Bevölkerungswachstum so weit hinterher, dass jede Abschlussfeier wie ein kollektiver Sprung von der Klippe wirkt. Hinzu kommt die staatliche Vorliebe für neue Abgaben, und man erhält einen Druckkochtopf, der schon bei der geringsten Hitze pfeift.
So wie es aussieht, da die Regierung hart bleibt und die Polizeibeamten belohnt, die Demonstranten angegriffen haben, scheinen die Kenianer dazu bestimmt zu sein, erneut auf die Straße zu gehen, sobald der Druck steigt. Und wieder wird sich der Kreislauf der Gewalt und des Gemetzels auf unseren Bildschirmen abspielen, es sei denn, es ändert sich etwas. Kenia scheint auf einem dunklen Pfad zu wandeln.
Wir schließen mit den ergreifenden Worten von Raphael Nambora Mangi, Mutter eines jungen Mannes, der bei den Protesten getötet wurde, und Worte, die das Gefühl all jener perfekt beschreiben, die bei diesen Protesten einen geliebten Menschen verloren haben: „Ich bin in so großen Schmerzen.“ Was in Kenia geschieht, mag von den Nachrichten aus dem Nahen Osten überschattet worden sein, doch es verdient unsere Aufmerksamkeit.