Der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte, war von scheinbar geringer Bedeutung: ein gewalttätiger Übergriff auf einen drusischen Gemüsehändler am vergangenen Sonntag. Doch in der ethnisch und religiös fragmentierten Landschaft Syriens entwickelte sich daraus rasch ein Flächenbrand. Eine Spirale aus Vergeltung, Entführungen und schliesslich bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drusen- und Beduinengruppen erfasste die gesamte Provinz.2 Als die syrischen Regierungstruppen versuchten, die Lage zu deeskalieren und die Ordnung wiederherzustellen, erfolgte die prompte und brutale Antwort aus Israel.
Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe (IAF) bombardierten nicht nur die syrischen Einheiten in Suwayda, sondern auch strategische Ziele in und um Damaskus, darunter nach unbestätigten Berichten auch das Verteidigungsministerium und die Umgebung des Präsidentenpalastes. Offiziell begründete Jerusalem sein Vorgehen mit der Notwendigkeit, die drusische Minderheit zu schützen – eine Argumentationslinie, die Israel bereits in der Vergangenheit nutzte, um seine militärischen Operationen in Syrien zu legitimieren.
Doch hinter der humanitären Rhetorik dürfte ein kühles strategisches Kalkül stehen. Seit dem Sturz des Assad-Regimes und der Machtübernahme durch die sunnitisch-arabische Rebellenkoalition unter Ahmad al-Shara beobachtet Israel die Entwicklung mit Argusaugen. Al-Shara hatte zwar umgehend versichert, die Rechte aller Minderheiten – darunter Alawiten, Kurden und die etwa 1-2 Millionen zählenden Drusen – zu schützen und hat dies bislang auch erfolgreich umgesetzt. Für Israel jedoch stellt eine stabile, geeinte syrische Regierung unter neuer Führung eine unberechenbare Variable an seiner Nordgrenze dar. Die Intervention unter dem Vorwand des Drusenschutzes dient somit nicht nur der Demonstration militärischer Überlegenheit, sondern untergräbt gezielt die Autorität der neuen Regierung in Damaskus.
Für Präsident al-Shara ist die Lage ein diplomatischer und strategischer Albtraum. Seine bisherige Politik der Deeskalation gegenüber Israel, die auf eine Normalisierung der Beziehungen abzielte, ist krachend gescheitert. "Diese Ereignisse markieren einen Wendepunkt in der Beziehung unserer Regierung zu Israel", erklärte al-Shara sichtlich konsterniert. Die Botschaft aus Jerusalem ist unmissverständlich: Israel wird seine Interessen in Syrien weiterhin militärisch durchsetzen, unabhängig davon, wer in Damaskus regiert.
Die Drusen, die während des Bürgerkriegs eigene Milizen zur Selbstverteidigung gegen das Assad-Regime aufstellten und seither die Provinz Suwayda de facto kontrollieren, finden sich in einer prekären Lage wieder. Einerseits sind sie auf Schutz angewiesen, andererseits drohen sie, zum Spielball fremder Mächte zu werden.
In diesem hochkomplexen geopolitischen Schachspiel betritt nun ein weiterer Akteur verstärkt die Bühne: die Türkei. Der am Mittwoch unter Vermittlung der USA und der Türkei ausgehandelte Waffenstillstand zeigt, dass Ankara seinen Einfluss in Syrien keineswegs aufgeben will. Für al-Shara könnte eine tiefere militärische Kooperation mit der Türkei die einzige realistische Option sein, um ein Gegengewicht zu Israels militärischer Dominanz zu schaffen. Ein solcher Schritt birgt jedoch die Gefahr, Syrien endgültig in eine Arena für den schwelenden Konflikt zwischen den Regionalmächten Israel und Türkei zu verwandeln.
Der Waffenstillstand in Suwayda ist daher mehr als nur eine Atempause. Er ist ein kritischer Moment, der über die Stabilität des neuen Syriens und die Machtbalance im gesamten Nahen Osten entscheiden könnte. Präsident al-Shara steht am Scheideweg. Jeder seiner nächsten Züge wird darüber entscheiden, ob sein Land den Weg in eine souveräne Zukunft findet oder im Treibsand geopolitischer Rivalitäten versinkt.