Hunger als Waffe? Der erbitterte Informationskrieg um die Not in Gaza

Die humanitäre Lage im Gazastreifen hat einen neuen, dramatischen Eskalationspunkt erreicht. Im Zentrum der internationalen Debatte steht ein schwerwiegender Vorwurf: Israel setze Hunger gezielt als Waffe im Krieg gegen die Hamas ein. Renommierte Medien wie die "New York Times", Organisationen wie die Vereinten Nationen und sogar hochrangige amerikanische Politiker wie die ehemaligen Präsidenten Obama und Trump zeichnen das Bild einer menschengemachten Hungersnot katastrophalen Ausmaßes. Demgegenüber steht die israelische Regierung, die diese Anschuldigungen vehement zurückweist. Sie spricht von einer zynischen Propagandakampagne der Hamas und verweist auf hunderte von Lastwagenladungen mit Hilfsgütern, die an der Grenze bereitstünden, aber von internationalen Organisationen nicht abgeholt würden. Es ist ein Konflikt, der nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Narrativen geführt wird – ein Informationskrieg, dessen Nebel die Wahrheit zu verschleiern droht und bei dem die Zivilbevölkerung den höchsten Preis zahlt.

Die Anschuldigungen wiegen schwer. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) schlug kürzlich Alarm und sprach von einem "neuen und erstaunlichen Ausmaß der Verzweiflung". Ein Drittel der Bevölkerung im Gazastreifen habe tagelang nichts zu essen. Die "New York Times" titelte unmissverständlich: "Gazans are Dying of Starvation" (Menschen in Gaza sterben an Hunger). Die Associated Press untermauerte diese Berichte mit konkreten, wenn auch erschütternden Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des UN-Nothilfebüros (OCHA): Allein im Jahr 2025 seien 21 Kinder unter fünf Jahren an den Folgen von Mangelernährung gestorben, 13 davon allein im Juli.

Diese Berichte finden ein breites Echo auf der politischen Bühne, das die üblichen politischen Gräben überwindet. Dass sowohl der demokratische Ex-Präsident Barack Obama, der forderte, "Hilfslieferungen müssen die Menschen in Gaza erreichen", als auch sein republikanischer Nachfolger Donald Trump, der konstatierte, "So etwas kann man nicht fälschen", die Situation als authentische Hungersnot bezeichnen, verleiht den Vorwürfen ein außergewöhnliches Gewicht. Es signalisiert einen überparteilichen Konsens in der westlichen Wahrnehmung, der den Druck auf die israelische Regierung massiv erhöht.

Die Vereinten Nationen sehen die Schuld für die Misere klar auf israelischer Seite. In einer Pressekonferenz beklagte ein UN-Sprecher, dass die eingehenden Hilfsgüter bei Weitem nicht ausreichten, um das Überleben der Menschen zu sichern. Als Gründe nannten die UN eine Reihe von Hindernissen, die von den israelischen Behörden auferlegt würden: bürokratische, logistische und administrative Hürden, anhaltende Kampfhandlungen, eingeschränkter Zugang innerhalb des Gazastreifens sowie kriminelle Plünderungen und gewaltsame Zwischenfälle bei der Verteilung. Die Kernaussage der Hilfsorganisationen bleibt dieselbe: Ohne eine massive Aufstockung der Lieferungen und sichere Verteilungsrouten ist die Katastrophe nicht abzuwenden.

Die israelische Regierung zeichnet ein fundamental anderes Bild der Lage. Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte in einer Stellungnahme unmissverständlich: "Es gibt keine Hungersnot in Gaza. Es gibt keine Politik des Aushungerns in Gaza." Er bekräftigte, dass Israel an seinen Kriegszielen festhalte – der Befreiung der Geiseln und der Zerstörung der Hamas. Über die pauschale Zurückweisung hinaus argumentiert Israel mit konkreten Sicherheitsdilemmata. Offizielle Stellen betonen die Gefahr, dass unkontrollierte Hilfslieferungen direkt der Hamas in die Hände spielen könnten. Güter wie Treibstoff, Zement oder bestimmte medizinische Geräte gelten als "Dual-Use"-Güter, die von der Terrororganisation für militärische Zwecke – etwa zum Betreiben von Tunnelbelüftungen oder zur Reparatur von Waffen – missbraucht werden könnten. Diese Sicherheitsbedenken, so die israelische Argumentation, erforderten zwingend strenge und zeitaufwendige Inspektionen, was den Güterfluss naturgemäß verlangsame.

Unterstützt wird diese Darstellung durch die israelischen Verteidigungskräfte (IDF). In aufwendig produzierten Videos und Statements versucht die Armee, die internationale Wahrnehmung zu korrigieren. Ein IDF-Sprecher, gefilmt am Grenzübergang Kerem Schalom, zeigt auf Kisten voller Hilfsgüter. "Israel blockiert keine humanitäre Hilfe. Wir ermöglichen ihre Einfuhr jeden einzelnen Tag", erklärt er. Colonel Abdel Halabi, Leiter der Zivilverwaltung für Gaza (CLA), legt aus dem Inneren des Gazastreifens nach. Er steht auf der palästinensischen Seite von Kerem Schalom, hinter ihm sind, wie er sagt, über 800 LKW mit Hilfsgütern zu sehen, die auf die Verteilung warten. "Israel begrenzt nicht die Anzahl der LKW [...]. Das Problem ist die Abholung", betont Halabi.

Doch der Begriff "Abholungsproblem" vereinfacht eine hochkomplexe und lebensgefährliche Realität. Selbst wenn die Lastwagen die israelischen Kontrollen passiert haben, beginnt für die Hilfsorganisationen eine logistische Odyssee. Sie berichten von einem gravierenden Mangel an eigenen Fahrzeugen und Treibstoff innerhalb des Gazastreifens. Zahlreiche Straßen sind durch die Bombardements zerstört und unpassierbar. Das größte Hindernis ist jedoch der fortschreitende Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. In dem entstandenen Machtvakuum operieren nicht nur verzweifelte Menschenmengen, die aus reinem Hunger Konvois stürmen, sondern auch kriminelle Banden und bewaffnete Clans, die die Hilfe als Handelsware betrachten. UN-Mitarbeiter und ihre lokalen palästinensischen Helfer arbeiten unter ständiger Lebensgefahr, gefangen zwischen den militärischen Fronten und der aufkeimenden Anarchie. Eine geordnete, bedarfsgerechte Verteilung wird unter diesen Umständen zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe.

In diesem Dickicht aus gegenseitigen Schuldzuweisungen wird die Suche nach der Wahrheit zur Sisyphusarbeit. Beide Seiten untermauern ihre Narrative mit scheinbar plausiblen Beweisen. Die Realität ist jedoch, dass die schiere Menge an Desinformation und Propaganda ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat. Ein besonders perfides Beispiel, auf das die israelische Regierungsstelle COGAT hinwies, ist das Foto des fünfjährigen Osama al-Rakab. Sein Bild wurde viral genutzt, um Israel des Aushungerns von Kindern zu bezichtigen. Tatsächlich leidet der Junge an einer schweren genetischen Erkrankung, die nichts mit dem Krieg zu tun hat. Israel selbst koordinierte seine Ausreise zur medizinischen Behandlung nach Italien.

Dieser Fall illustriert die Gefahr, die von der Instrumentalisierung menschlichen Leids ausgeht. Tragische Bilder rühren zu Recht starke Emotionen auf, doch wenn sie für Propaganda missbraucht werden, schüren sie Hass und verzerren die Fakten. Für die Zivilisten in Gaza ist dieser Informationskrieg eine zusätzliche Bürde. Während die Welt darüber streitet, wer die Verantwortung für die leeren Teller trägt, bleibt ihre Not real und akut. Der Stillstand hat verheerende Folgen, nicht nur für die physische Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch für die soziale Struktur, die unter dem Druck von Hunger und Gesetzlosigkeit zerfällt. Solange der Informationskrieg die logistische Krise überlagert und ein robuster, international überwachter Verteilungsmechanismus fehlt, droht sich die Spirale aus Hunger, Tod und Verzweiflung unaufhaltsam weiterzudrehen.