Eine Wunde, die nicht heilt: Wie die Vergangenheit Thailands und Kambodschas den Krieg der Gegenwart entfesselte

Der Ausbruch offener Kampfhandlungen zwischen Thailand und Kambodscha mag für die Welt, die Südostasien primär mit goldenen Sonnenuntergängen und friedlichen Tempelanlagen assoziiert, plötzlich erscheinen. Doch die jüngsten Luftangriffe und der Artilleriebeschuss sind keineswegs überraschend. Sie sind der tragische Höhepunkt eines Konflikts, der von einem jahrhundertealten Trauma, ungelösten Rechtsfragen und akuten innenpolitischen Krisen auf beiden Seiten der Grenze genährt wird. In einem Jahr, in dem weltweit schwelende Dispute zu heissen Kriegen eskalieren, liefert diese Konfrontation ein Lehrstück darüber, wie die Geister der Vergangenheit die Gegenwart in Brand setzen können.Höhepunkt eines Konflikts, der von einem jahrhundertealten Trauma, ungelösten Rechtsfragen und akuten innenpolitischen Krisen auf beiden Seiten der Grenze genährt wird. Um den Krieg zu verstehen, muss man in die Vergangenheit blicken.

 In the center, the ancient Preah Vihear temple, a masterpiece of Khmer architecture with intricate stone carvings, sits majestically atop a jungle-covered cliff under a tense, stormy sky filled with dark, heavy clouds. In the sky above, two Thai F-16 fighter jets streak past, leaving sharp contrails, suggesting aggression and modern military power. In the lush valley below the temple, a plume of black smoke rises from a distant explosion, hinting at the unfolding conflict on the ground. The scene is a stark and poignant contrast between timeless cultural heritage and the brutal reality of modern warfare. The lighting is dramatic and cinematic, reminiscent of a Goya painting, with sharp shadows and a somber, desaturated color palette. The overall mood is one of tension, tragedy, and a historical conflict erupting in a sacred landscape.

Die Wurzel allen Übels liegt in einem majestätischen Tempel auf einer Klippe und einem Vertrag aus der Kolonialzeit. Preah Vihear, ein architektonisches Meisterwerk des Khmer-Reiches, ist für Kambodscha ein Symbol nationaler Identität und Souveränität. Für thailändische Nationalisten hingegen ist es eine ständig schwärende Wunde. Um die Tiefe dieser Verletzung zu verstehen, muss man sich in die Kolonialzeit zurückversetzen. Damals fand sich Siam, das heutige Thailand, eingeklemmt zwischen zwei Raubtieren: dem britischen Empire im Westen und Französisch-Indochina im Osten. Um dem Schicksal seiner Nachbarn zu entgehen und nicht selbst annektiert zu werden, sah sich Siam zu schmerzhaften territorialen Zugeständnissen gezwungen.

Der französisch-siamesische Vertrag von 1907 war ein solches Zugeständnis. Gebiete, die Siam als sein Eigenes betrachtete, wurden an Frankreich abgetreten und administrativ an Kambodscha angegliedert – darunter auch die Region um Preah Vihear. Diese unter Zwang erfolgte Abtretung wird in Thailand bis heute als nationale Demütigung empfunden. Die Geschichte des Tempels im 20. Jahrhundert ist ein Spiegelbild dieses ungelösten Anspruchs: Im Zweiten Weltkrieg schlug sich Thailand auf die Seite des imperialen Japan und eroberte das Gebiet gewaltsam zurück, nur um es nach Kriegsende wieder an die französische Kolonialmacht abtreten zu müssen.

Diese historische Hypothek wurde über die Jahrzehnte nie abgetragen. Juristische und diplomatische Bemühungen verhärteten die Fronten nur weiter. Als Kambodscha 1953 die Unabhängigkeit erlangte, brachte es seinen Anspruch vor den Internationalen Gerichtshof (IGH). 1962 entschied dieser, dass der Tempel auf kambodschanischem Territorium liegt. Bangkok akzeptierte das Urteil widerwillig, legte die Entscheidung aber so eng wie möglich aus. Als Kambodscha 2008 erfolgreich die Aufnahme des Tempels in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes beantragte, legte Thailand Veto ein – aus Angst, dies würde Kambodschas Anspruch auf das umstrittene Umland von 4,6 Quadratkilometern zementieren. Eine weitere Entscheidung des IGH im Jahr 2013, die auch dieses Umland Kambodscha zusprach, wird von Bangkok schlichtweg nicht anerkannt. Der Streit war damit nicht gelöst, sondern nur auf unbestimmte Zeit vertagt und die Grenze blieb über Jahrzehnte, insbesondere während des Kalten Krieges und der Herrschaft der Roten Khmer, hochgradig militarisiert und befestigt.

In dieses Pulverfass historischer Animositäten fiel im Sommer 2025 der Funke einer akuten politischen Instabilität.

In Thailand erlebte die erst im August 2024 ins Amt gekommene Premierministerin Paetongtarn Shinawatra eine politische Kernschmelze. Ein geleaktes Telefonat mit dem kambodschanischen Ex-Machthaber Hun Sen wurde ihr zum Verhängnis. Ihr Versuch, die Lage zu deeskalieren, klang in den Ohren thailändischer Nationalisten und des mächtigen Militärs wie eine Kapitulation. Ihr unterwürfiger Ton – sie nannte Hun Sen „Onkel“ – und ihre Kritik an einem eigenen Militärkommandeur überschritten eine rote Linie. Wie es der Analyst Joshua Kurlantzick formulierte: „Das Militär zu verärgern, ist in Thailand niemals eine gute Idee.“ Die thailändische Politik, so der ehemalige Oppositionspolitiker Pita Limjaroenrat, sei „absichtlich festgefahren“, mit Verfassungsmechanismen, die es dem Militär-Establishment erlauben, Wahlergebnisse zu kippen.

Shinawatras spätere Entschuldigung, sie habe nur „Chaos und den Verlust von Menschenleben vermeiden“ wollen, ging im Sturm der Entrüstung unter. Die Folge waren die grössten Massenproteste seit Jahren. Am 1. Juli setzte das Verfassungsgericht die Premierministerin schliesslich ausser Kraft. Thailand war damit in einer entscheidenden Phase führungsschwach, während das Militär auf eine harte Haltung drängte. Jeder Versuch der Deeskalation wäre fortan als Schwäche ausgelegt worden.

Gleichzeitig verfolgte man in Kambodscha eine eigene, riskante Agenda. Ein Korrespondent der BBC fasste die Lage treffend zusammen: „In Kambodscha haben Sie eine Wirtschaft, die wirklich kämpft. Sie haben einen Premierminister, der der Sohn eines ehemaligen starken Mannes ist und noch nicht wirklich seine eigene Autorität besitzt.“ Dieser neue Premier, Hun Manet, steht im Schatten seines Vaters Hun Sen, der die nationalistische Karte zu spielen scheint, um von den inneren Schwierigkeiten abzulenken. Die Ankündigung, 2026 die Wehrpflicht einzuführen, zeugt von der Bereitschaft, für politischen Gewinn eine Konfrontation mit dem militärisch und wirtschaftlich weit überlegenen Nachbarn zu riskieren.

Vor diesem Hintergrund war der tödliche Schusswechsel zwischen zwei Grenzpatrouillen am 28. Mai mehr als nur ein bedauerlicher Zwischenfall. Er war der Auslöser einer unaufhaltsamen Eskalationsspirale. Anders als bei früheren Scharmützeln, wie etwa zwischen 2008 und 2011, als bei Kämpfen binnen einer Woche 15 Menschen starben, gab es diesmal keinen ernsthaften Willen zur Deeskalation. Stattdessen überboten sich beide Seiten mit Strafmassnahmen: Kambodscha verbannte thailändische Filme, kappte Internetleitungen und stoppte Importe. Thailand schloss die Grenzübergänge für fast den gesamten Personen- und Warenverkehr.

Die Ereignisse vom Donnerstag, der 24. Juli, waren somit die fast logische Konsequenz. Der Krieg brach nicht aus, er war das Ergebnis eines Prozesses. Die Artillerieduelle, der Beschuss ziviler Ziele und der Einsatz thailändischer F-16-Kampfjets sind der brutale Ausdruck einer Situation, in der beide Regierungen – getrieben von historischen Traumata und innenpolitischem Druck – keinen anderen Ausweg mehr sahen oder sehen wollten. Die eigentliche Tragödie von Preah Vihear liegt nicht nur in den jüngsten Opfern, sondern in der Erkenntnis, dass dieser Konflikt so lange ungelöst blieb, bis er schliesslich auf die einzig verbliebene, schrecklichste Weise ausgetragen wurde.