Die Taktik, die von russischen Militärbloggern mit einer Mischung aus Furcht und Respekt beschrieben wird, ist ebenso einfach wie grausam. "Der Feind ist gerissener geworden", schreibt der russische Blogger "Mad Dogs". "Sie feuern nicht mehr wahllos, sondern operieren mit Pausen, wie erfahrene Jäger." Ukrainische Drohnenpiloten stellen die Angriffe auf einen bestimmten Frontabschnitt für zwei bis sechs Tage komplett ein. In dieser Zeit, so die Analyse, entspannen sich die russischen Soldaten in ihren Stellungen. Die ständige, nervenaufreibende Gefahr von oben scheint gebannt. Ein Soldat geht ohne Helm zur Latrine, ein anderer richtet sich auf, um eine Zigarette zu rauchen. Menschliche Natur in einer unmenschlichen Umgebung.
Doch die Stille ist eine Falle. Während dieser Phase der vermeintlichen Ruhe beobachten ukrainische Aufklärungsdrohnen unbemerkt jede Bewegung. Sie kartieren die Laufwege, identifizieren die Position von Unterständen, Feldküchen und Munitionsdepots. Sie analysieren die "patterns of life", die Lebensmuster der gegnerischen Einheit. "Sie analysieren, wo und wie oft Menschen auftauchen, machen sich Notizen", so der Blogger. Sobald genügend Daten gesammelt sind und die Wachsamkeit auf der russischen Seite am Tiefpunkt ist, erfolgt der Gegenschlag: Ein koordinierter Schwarm von 10 bis 15 FPV-Kamikazedrohnen wird gleichzeitig losgeschickt, jede mit einem präzise zugewiesenen Ziel. Das Ergebnis ist verheerend.
Diese Methode steht im Kontrast zu den permanenten Drohnenangriffen auf vorrückende russische Kolonnen. Im Stellungskrieg jedoch hat sich die psychologische Komponente als entscheidender Faktor erwiesen. Die Botschaft an die russischen Soldaten ist klar: Es gibt keinen sicheren Moment. Jede Bewegung muss auf Befehl erfolgen, selbst der Gang zur Toilette. Die ständige Überwachung macht die Front zu einem Panoptikum, in dem jede Unachtsamkeit tödlich sein kann.
Verschärft wird diese Bedrohung durch den Einsatz von schweren Bomberdrohnen, von den Russen gefürchtet als "Baba Jaga" oder "Vampir". Dabei handelt es sich oft um umgebaute Agrardrohnen, groß und stark genug, um schwere Munition wie 155-mm-Artilleriegranaten oder Panzerabwehrminen vom Typ TM-62 zu transportieren. Diese Giganten der Lüfte stellen eine Art moderne B-24-Bomber des Schlachtfeldes dar. Ihre Taktik ist besonders ausgeklügelt. Sie fliegen oft im Tiefflug, unterhalb der Baumwipfel, und nutzen den Autopiloten, um bis kurz vor dem Ziel keine Signale auszusenden, was sie für die elektronische Kriegsführung schwer erfassbar macht. Erst in den letzten 10 bis 15 Sekunden übernimmt ein menschlicher Operator die Steuerung für den finalen Angriff.
Auch hier zeigt sich die ukrainische Innovationskraft. Eine beschriebene Taktik besteht darin, zwei Minen auf dasselbe Ziel abzuwerfen. Die erste wird ohne Zünder abgeworfen, um die Struktur des Ziels – beispielsweise eines Bunkers – zu beschädigen. Die zweite Mine detoniert dann auf der ersten, was eine massive, kombinierte Explosion auslöst.
Um diese wertvollen, aber relativ langsamen "Baba Jaga"-Drohnen zu schützen, werden sie bei Nachteinsätzen von kleineren, wendigen FPV-Drohnen eskortiert, die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind. Sobald russische Soldaten ihre Deckung verlassen, um mit Handfeuerwaffen auf die große Bomberdrohne zu schießen, werden sie selbst zum Ziel der Eskortdrohnen. Der gesamte Angriff wird oft von vorbereitendem und nachfolgendem Artilleriefeuer flankiert, das von Aufklärungsdrohnen gelenkt wird. Versuchen die Russen, Brände zu löschen oder ihre Verwundeten zu evakuieren, schlägt die Artillerie erneut zu.
Diese komplexen, mehrstufigen Operationen verdeutlichen, dass der Fokus nicht mehr allein auf der technologischen Innovation einzelner Drohnen liegt, sondern auf deren strategischer und taktischer Integration. Kiew scheint zu verstehen, dass die Überlegenheit im Drohnenkrieg nicht nur durch bessere Hardware, sondern vor allem durch cleverere Einsatzkonzepte errungen wird.
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat diesen Weg bestätigt und eine massive Steigerung der heimischen Rüstungsproduktion gefordert. Innerhalb der nächsten sechs Monate soll der Anteil ukrainischer Waffensysteme in den eigenen Streitkräften um 50 Prozent steigen. "Jeder Standort in Russland, den Moskau für die Waffenproduktion nutzt, muss für unsere Verteidigungskräfte erreichbar werden", so Selenskyj. Der Fokus liegt klar auf der Produktion von Abfangdrohnen gegen russische Angriffe und eigenen Langstreckenraketen.
Während Kiew seine Verteidigungsstrategie schärft, scheint sich an den Frontlinien selbst eine Pattsituation abzuzeichnen. Berichte über einen angeblichen russischen Durchbruch bei Pokrowsk erwiesen sich als unbegründet; die Lage bleibt angespannt, aber weitgehend statisch. Im Norden, im Gebiet Sumy, konnte der russische Vorstoß vom Frühsommer offenbar eingedämmt werden.
Inmitten dieser strategischen und technologischen Auseinandersetzungen sorgt eine bizarre Nebengeschichte für Aufsehen: Ein amerikanischer Familienvater, der mit seiner Familie nach Russland floh, um einer vermeintlichen "Woke-Indoktrination" in den USA zu entgehen, wurde an die Front geschickt. Er hatte sich dem russischen Militär angeschlossen, in der Hoffnung auf eine schnelle Einbürgerung und um den "Respekt seiner neuen Landsleute zu verdienen". Trotz der Zusage einer ungefährlichen Rolle als Mechaniker fand er sich nach nur anderthalb Wochen Training – in einer Sprache, die er nicht versteht – offenbar in einer Sturmeinheit wieder. Unbestätigten Berichten zufolge könnte er bereits gefallen sein. Eine tragische Ironie, die die brutale Realität des Krieges unterstreicht, in dem Ideologie und Propaganda schnell von der erbarmungslosen Logik des Schlachtfelds eingeholt werden.