Die blutige Kurve: Wie die 'Ndrangheta die Fankultur des italienischen Fussballs unterwanderte

Ein Mord vor einem Mailänder Fitnessstudio am 4. September 2024 war der Funke, der ein Feuer offenbarte, das längst unter der Oberfläche des italienischen Fussballs loderte. Der Vorfall legte die tiefen und gewalttätigen Verstrickungen zwischen den mächtigsten Ultra-Gruppen des Landes und der 'Ndrangheta, der wohl finanzstärksten Mafia-Organisation der Welt, schonungslos offen. Es ist eine Geschichte über die Korruption einer Leidenschaft, den Verrat unter Brüdern und die schleichende Infiltration des Sports durch ein globales kriminelles Imperium.

Fotorealistisches Bild im Stil eines düsteren Kinoplakats, 16:9 Format. Im Vordergrund eine italienische Fussball-Fankurve bei Nacht, erfüllt von rotem Rauch von Leuchtfeuern und wehenden Bannern der Ultras. Die Gesichter der Fans zeigen eine Mischung aus Leidenschaft und Anspannung. Im Rauch und den Schatten hinter der Tribüne zeichnet sich subtil die Silhouette eines Mannes im teuren Anzug ab, dessen Gesicht im Dunkeln verborgen bleibt. Er blickt nicht auf das Spielfeld, sondern auf die Fans, als wären sie seine Ware. Die Atmosphäre ist elektrisierend, aber unheilvoll und bedrohlich, eine visuelle Metapher für die Unterwanderung der Fankultur durch das organisierte Verbrechen.

Der Mann, der an jenem Septemberabend mit einer Schusswunde aus dem Auto taumelte, war Andrea Beretta, ein Anführer der Hardcore-Fangruppe von Inter Mailand, der Curva Nord. Der andere Mann im Wagen war tot, Opfer von 21 Messerstichen: Antonio Balocco, Erbe einer einflussreichen Familie der 'Ndrangheta. Dieser brutale Akt war kein zufälliger Gewaltausbruch, sondern der Höhepunkt eines erbitterten Machtkampfes um die Kontrolle eines millionenschweren Geschäfts – des Ökosystems rund um das legendäre San-Siro-Stadion.

Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, muss man die Evolution des organisierten Verbrechens in Italien betrachten. Die klassischen Mafia-Gruppen – die Cosa Nostra in Sizilien, die Camorra in Kampanien und die 'Ndrangheta in Kalabrien – entstanden im 19. Jahrhundert und infiltrierten über Jahrzehnte fast alle Bereiche der süditalienischen Wirtschaft. Eine Studie aus dem Jahr 2015 schätzt, dass ihre Aktivitäten in einigen Regionen für einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um bis zu 20 Prozent verantwortlich waren.

Während die blutigen Mafia-Kriege der 1980er Jahre, die über tausend Menschen das Leben kosteten und zu den grössten Prozessen in der italienischen Geschichte führten, die Cosa Nostra schwächten, nutzte die 'Ndrangheta das entstandene Machtvakuum. Sie änderte ihre Strategie: Statt aufsehenerregender Gewalt setzte sie auf Subtilität und globale Expansion. Durch die Kontrolle strategisch wichtiger Häfen baute sie lukrative Kokain-Schmuggelrouten nach Europa auf. Die daraus resultierenden Gewinne wurden systematisch durch legale Geschäfte wie Hotels, Restaurants und Supermärkte gewaschen. Dieses "Franchise-Modell" ermöglichte es der 'Ndrangheta, ihre Macht von ihrer Heimat Kalabrien aus in die grossen Städte Italiens, insbesondere das wohlhabende Mailand, und schliesslich in mindestens 80 Länder weltweit zu exportieren, darunter Kanada, Kolumbien und Australien. Heute wird ihr Jahresumsatz auf schwindelerregende 60 Milliarden Dollar geschätzt.

Der professionelle Fussball, mit seinen immensen Geldflüssen, war ein offensichtliches Ziel für eine Organisation, die ständig nach neuen Einnahmequellen sucht. Die Verbindungen zwischen Mafia und Fussball sind in Italien historisch. Man denke an Diego Maradona, der sich während seiner Zeit in Neapel mit Mitgliedern der Camorra zeigte, an die zahllosen Wettskandale oder an die Tatsache, dass Mafia-Clans bereits kleinere Vereine besassen, um Prestige und lokale Loyalität zu gewinnen.

Doch die Ambitionen der 'Ndrangheta waren grösser. Ihr Ziel waren die Top-Clubs in ihrer Mailänder Machtbasis: AC Mailand und Inter Mailand. Eine direkte Übernahme dieser Vereine wäre zu riskant und auffällig gewesen. Stattdessen zielte die Organisation auf das ab, was rund um die Spiele passiert: der millionenschwere Markt für Tickets, Parkplätze, Merchandise und Gastronomie im und um das San-Siro-Stadion.

Dieses Territorium wurde jedoch von den Ultras kontrolliert – den treuesten, organisiertesten und oft auch radikalsten Fangruppen. Die Ultras sind in Italien mehr als nur Fans. Sie sind eine soziale und kulturelle Institution, die ein Gefühl von Identität und Zugehörigkeit vermittelt und oft die Interessen der Fans gegenüber den Vereinen vertritt. Sie sind für die legendäre Atmosphäre in den Stadien verantwortlich, für die Choreografien, Gesänge und Leuchtfeuer. Doch diese Kultur hat auch eine dunkle Seite: Gewalt, Rassismus, radikale Politik und eine Anfälligkeit für Kriminalität.

Der Plan der 'Ndrangheta war einfach und perfide: die Ultras unterwandern und ihre Macht übernehmen, um das Stadion zu kontrollieren. Jahrelang war Vittorio Boiocchi, genannt "der Onkel", der unangefochtene Boss der Inter-Ultras. Trotz einer 26-jährigen Haftstrafe wegen Drogenhandels, Raubes und Entführung genoss er hohes Ansehen. Er perfektionierte ein korruptes System: Er liess sich vom Verein tausende Freikarten geben, die er nicht an seine Mitglieder verteilte, sondern über ein Netzwerk von Schwarzhändlern mit massivem Gewinn verkaufte – ein System, das ihm laut eigenen Aussagen monatlich rund 80.000 Euro einbrachte.

Im Jahr 2022 wurde Boiocchi plötzlich ermordet. Seine Leutnants, darunter Andrea Beretta, sorgten dafür, dass Antonio Balocco, der Mann mit den direkten Verbindungen zur 'Ndrangheta, die Führung übernahm. Die Mafia hatte die Kurve übernommen. Sofort eskalierte das Geschäft. Balocco und Beretta forderten noch mehr Freikarten vom Verein. Als Inter 2023 das Finale der Champions League erreichte, drohten sie Berichten zufolge mit Krawallen, sollte der Club nicht 200 zusätzliche Tickets herausrücken. Der Verein gehorchte.

Die Infiltration ging weiter. Die Inter-Ultras kollaborierten sogar mit den Anführern der rivalisierenden Curva Sud von AC Mailand, um das Ticketsystem auszubauen. Gemeinsam übernahmen sie die Kontrolle über die Parkplätze, die Imbissstände und die Merchandise-Verkäufe rund um das Stadion. Das San Siro, das Herz des italienischen Fussballs, war zur neuesten Franchise der 'Ndrangheta geworden, die Millionen von Euro generierte, welche direkt in weitere kriminelle Unternehmungen flossen.

Doch wie so oft in den Annalen der Mafia endete die Partnerschaft in Verrat. Balocco und Beretta wollten das wachsende Imperium nicht teilen. Die Spannungen eskalierten und mündeten in der tödlichen Konfrontation im September 2024. Mit dem Mord an Balocco bot sich der italienischen Polizei die Chance, das Netzwerk zu zerschlagen. Im Juni wurden 19 Ultras wegen Mordes, Erpressung und krimineller Vereinigung mit der 'Ndrangheta für schuldig befunden. Beretta, der mit der Polizei kooperierte und nicht nur den Mord an Balocco, sondern auch den Auftrag zum Mord an seinem Vorgänger Boiocchi gestand, erhielt eine reduzierte Haftstrafe von zehn Jahren. Auch der Anführer der AC-Mailand-Ultras muss für zehn Jahre ins Gefängnis.

Die Vereine selbst kamen mit geringen Strafen davon – eine Geldstrafe von je 50.000 Euro für den "Imageschaden". Der Skandal hat jedoch weitreichende Folgen. Er ist kein Einzelfall. Ermittlungen zeigten bereits 2018 die Infiltration der Juventus-Ultras durch die 'Ndrangheta, und auch bei Lazio Rom und Neapel gibt es immer wieder Vorwürfe über Verbindungen zur organisierten Kriminalität.

Für die italienische Ultra-Bewegung ist die Situation verheerend. Sie stehen zwischen zwei Fronten: auf der einen Seite die Mafia, die ihre Strukturen und ihre Macht korrumpiert, und auf der anderen Seite die Vereine, die den Skandal nun als willkommenen Vorwand nutzen, um die oft kritischen und lauten Fangruppen endgültig zum Schweigen zu bringen. AC Mailand und Inter lehnen Berichten zufolge bereits hunderte von Dauerkartenanträgen von Ultra-Mitgliedern ab. Die kritische Stimme der Fans wird leiser, und wer sich doch erhebt, kann leicht als "Haufen krimineller Mafiosi" diskreditiert werden. Die leidenschaftlichen und farbenfrohen Szenen, die einst den italienischen Fussball definierten, könnten so zum jüngsten Opfer der Mafia werden – aber sie werden nicht das letzte sein.